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Überlegungen zur Rebellion – wie „People Power“ die Welt im Sturm erobern kann

Wie können wir das aktuelle System verändern? Und wie kann aus einer Vision eine Bewegung entstehen? Dieser Blogpost diskutiert die Theorie der Veränderung hinter Extinction Rebellion und Animal Rebellion – und wie wir transformative „PeoplePower“ bilden können.

Text: Animal Rebellion UK
Übersetzung: Laura

Was wenn ich dir sagen würde, dass ein Buch alle Antworten enthält, wie wir positive soziale Veränderung erreichen können? Würdest du mir glauben? Als ich das erste Mal ein Buch in den Händen hielt, das behauptete genau das zu tun, war ich skeptisch. Nachdem ich das Ausmaß der Ungerechtigkeit an Tieren, Menschen, und unserem Planeten erkannt hatte, kam ich an einen Punkt in meinem Leben, wo ich zunehmend verzweifelt nach einem Hoffnungsschimmer suchte, dass Veränderung überhaupt möglich ist.

Ich erinnere mich, dass ich Stunden und Tage damit zugebracht hatte mit Freunden darüber zu reden was wir tun könnten um Veränderung zu erreichen, als ich eines Tages in einem Secondhandladen über ein Buch stolperte, das alles veränderte. Jetzt, da ich mich Jahre später dafür engagiere Animal Rebellion beim Wachsen zu helfen, erscheint es fast unglaublich, dass genau dieses Buch, welches mir so zufällig in die Hände fiel, das Buch ist, welches die Entstehung von Extinction Rebellion und die darauffolgende Bildung von Animal Rebellion inspirierte. Was ist also die Forschung, die hinter Animal Rebellion und Extinction Rebellion steht, und wie kann ein Buch so einflussreich sein?

Das Buch, das ich damals fand, war „This is an Uprising: How Nonviolent Revolt is Shaping the Twenty-First Century“, geschrieben von den Brüdern Mark und Paul Engler. Die Engler-Brüder sind Autoren, Organisatoren, und Forscher zu gesellschaftlichen Bewegungen, die die jüngste Protestgeschichte der Welt studiert und ein Modell zu sozialer Veränderung präsentiert haben, das auf strategischer Gewaltlosigkeit und Momentum-Organisation basiert. Momentum ist eine Form der sozialen Bewegung, welche strukturbasierte Organisation mit dem Ziel verbindet ein Massenmoment der Mobilisation zu kreieren, in dem Millionen von Menschen sich auflehnen um Veränderung zu fordern.

In ihrem Buch benutzen die Engler-Brüder Beispiele von Bewegungen, wie das der indischen Unabhängigkeit, der Bürgerrechte in den USA, der serbischen Otpor-Bewegung, und dem arabischen Frühling, um aufzuzeigen wie innovative, kreative Taktiken die „Säulen der Gewalt“ eines korrupten und ungerechten Regimes umstürzen und genug Leute inspirieren können für Veränderung aktiv zu werden. Wie viel ist genug? Das Buch zitiert die Forschung der Politikwissenschaftlerin Erica Chenoweth, die herausfand, dass keine Bewegung, die 3.5% der Bevölkerung zu anhaltender aktiver Beteiligung mobilisieren konnte, ihre Ziele nicht erreicht hat.

Aber nicht nur das. „This is an Uprising“ plädiert für strategische Gewaltlosigkeit, indem sie wieder die Forschung von Chenoweth zitiert, die zeigt, dass gewaltfreie Bewegungen zweimal so viel Chancen auf Erfolg haben wie gewalttätige – eine Zahl, die durch Beispiele von Bewegungen illustriert wird, die sowohl aus moralischen als auch aus strategischen Gründen gewaltfrei gehandelt haben.

Diese Bewegungen sind inklusiver als ihre gewalttätigen Gegenstücke und haben es geschafft sowohl die Sympathie der Bevölkerung für die Sache zu gewinnen, als auch die Ungerechtigkeit der Staatsgewalt und Unterdrückung aufzuzeigen. Für mich hat dieses Buch eine vollkommen neue Welt eröffnet – eine Welt voller Leute, die dieselben Fragen wie ich stellten, darüber wie wir Veränderung erreichen können. Und es dauerte nicht lang bis sich die Lektionen aus diesem Buch direkt vor meinen Augen abspielten.

Für viele Leute waren die ersten Tage von Extinction Rebellion eine transformative und unglaubliche Erfahrung. Die Dringlichkeit der Klimakrise – gepaart mit der Überzeugung, „that the people united can never be defeated“, wie es im Lied heißt – inspirierte tausende von Menschen auf die Straße zu gehen und hunderte von ihnen sich einer Verhaftung zu stellen.

Von der anderen Seite der Welt aus beobachtete ich dies und war überwältigt die Vorlage aus Büchern wie „This is an Uprising“ zum Leben erweckt zu sehen. Aktive Unterstützung der Bevölkerung + gewaltfreie Aktion = der Staat verkündet einen Klimanotstand nach nur wenigen Monaten!

Das war der Zeitpunkt an dem Animal Rebellion begann – als eine kleine Gruppe von Leuten, die erkannten, dass dieselben Lektionen auf den Kampf für Tier- und Klimagerechtigkeit angewendet werden könnten. Mit demselben Traum 3.5% der Bevölkerung zu mobilisieren und demselben Verständnis für Werkzeuge wie Massenmobilisation und gewaltfreie Aktion, wurde Animal Rebellion aus einem Plan mit beeindruckendem Machbarkeitsnachweis geschaffen. Aber ist sozialer Wandel wirklich etwas, das man im Voraus planen kann?

Chenoweths Forschung und die Schlussfolgerungen der Engler-Brüder haben eine Flut von Gruppen inspiriert, die das Modell der Momentum-gelenkten Organisation nutzen um Bewegungen für Veränderung zu schaffen. Von Trainingsgruppen wie Momentum und dem Ayni Institut, zu Basisbewegungen wie dem Sunrise Movement: Die „Momentum-Kreislauf“-Vorlage (die nahelegt, dass großflächige Veränderung durch das Eskalieren von gewaltfreier Aktion, aktiver Unterstützung durch die Bevölkerung, und Aufnahme von Freiwilligen erreicht werden kann) erweist sich weltweit als extrem beliebt. Aber gleichzeitig kommen eine Reihe von Herausforderungen auf, wenn die Theorie in die Praxis umgesetzt wird.

Der „Momentum-Kreislauf“

Eine der häufigsten Kritiken an der Anwendung von Chenoweths Forschung im Momentum-Modell ist die Erkenntnis, dass der Forschungskontext deutlich vom Bewegungstyp abweicht auf den er angewendet wird. Die Daten in Chenoweths Forschung konzentrierten sich auf Bewegungen, „die unterdrückerische Regimes umstürzen, sich gegen fremde Besatzung wehren, und sich von Staaten abtrennen wollten.“ Dies ist ein anderer Kontext als der in dem sich Animal Rebellion und Extinction Rebellion wiederfinden, was zu Fragen über die Relevanz der Ergebnisse und besonders der 3.5%-Regel führt.

In einem Interview von 2016 sagte Erica Chenoweth:

„Wenn eine gewaltlose Kampagne…ökonomische und sozialgerechte Reformen erzielen will…sehen wir dieselben Erfolgsraten von gewalttätiger und gewaltfreier Aktion? Die Antwort ist, dass wir es noch nicht wissen, weil diese Arten von Datensammlungsverfahren noch nicht gänzlich entwickelt sind.“

Was uns das sagt, ist, dass obwohl uns diese Forschung wertvolles Wissen und Einsichten vermitteln kann, müssen wir erst noch sehen, ob diese Strategie, die sich als so effektiv für das Umstürzen von Diktatoren und unterdrückerischen Regimes erwiesen hat, dieselben Resultate für unser Ziel von Systemveränderung in einer freien Demokratie haben wird.

Zusätzlich beziehen sich einige Grundelemente der Momentum-Organisation auf das Erzeugen von öffentlicher Sympathie und Unterstützung (S. 18). In früheren Bewegungen war ein Schlüsselfaktor, der zu dieser Unterstützung beigetragen hat, „repression backfire“ (Unterdrückungsrückstoß). Hierbei hatten Gewalt und Unterdrückung durch den Staat den gegenteiligen Effekt der Unterstützungszunahme für die Bewegung. In freien Demokratien ist die Unterdrückung von Protestbewegungen meistens sehr viel weniger sichtbar als in unterdrückerischen Regimes. Gewalttätige Reaktionen sind selten (aber auch nicht unbekannt und oftmals häufig für marginalisierte Gemeinschaften, besonders für LGBT+ und BIPOC-Personen). Unterdrückung durch den Staat findet oftmals hinter geschlossenen Türen statt – dies beinhaltet ein unverständliches Rechtssystem, welches Protestierende in endlose Gerichtsverfahren verstrickt, die meist eingestellt werden.

Die Taktiken, die so gut gegen unterdrückerische Regimes funktionieren, könnten im politischen Kontext der UK (und anderen Demokratien) wirkungslos bleiben. Dies können wir an den wechselnden Taktiken nach April 2019 sehen, die zu erheblich weniger Berichterstattung über die folgenden Rebellionen in den Medien führten, sowie zu einer großen Anzahl an unrechtmäßigen Verhaftungen.

Mobilisierungsherausforderung

Eine weitere Herausforderung ist die der Mobilisierung. Wenn sich Bewegungen darauf konzentrieren ein unterdrückerisches Regime zu beenden oder einen Diktator zu stürzen, dann betrifft dies meist die ganze Bevölkerung. Srdia Popovic, einer der Führer der serbischen Otpor-Bewegung, spricht davon eine Trennungslinie zu erschaffen, wobei die Botschaft deutlich die Mehrheit der Bevölkerung ansprechen sollte, so dass auf der anderen Seite nur die klaren Bösewichte stehen, die dieser Botschaft widersprechen. Die Effekte eines unterdrückerischen Regimes sind präsent und sichtbar, sie werden sofort von den Menschen gespürt, die die Bewegung mobilisieren will. Eine Herausforderung für Bewegungen, die sich in einem anderen Kontext befinden, ist es dieselbe Motivation für persönlichen Einsatz zu hervorzubringen, meist ohne die entsprechenden direkten Einwirkungen.

Während Bewegungen wie Occupy und Extinction Rebellion dies durch ihre Mobilisierung von großen Menschenmengen, die Veränderung fordern, in gewissem Masse erreicht haben, war es ein fortwährender Kampf für solche Gruppen diese Art von aktiver Teilnahme aufrecht zu erhalten. Im Westen sehen wir oft ein Aufkommen von Klimaprotesten als Reaktion auf extreme Wetterereignisse, besonders die, die westliche Länder betreffen, wie z.B. die australischen Buschfeuer von 2019-2020.

Aber zwischen diesem Aufwallen von Interesse, „operieren soziale Bewegungen meist an der Grenze des Erfolgs, mit Burnout als stetigem Begleiter der Mobilisierung.“ Die Momentum-Organisation spricht davon „Wirbelwindmomente“ oder „Explosionen“ zu erschaffen, in denen viele Menschen sich plötzlich für ein Problem interessieren. Nichtsdestotrotz erscheint es offensichtlich, dass es wahrscheinlicher für diese Bewegungen ist Fuß zu fassen, wenn die Menschen direkt vom Schwerpunkt der Bewegung betroffen sind. Ohne die direkte Einwirkung eines unterdrückerischen Regimes (die für alle sichtbar ist), ist die Herausforderung aktive Teilnahme von 3.5% der Bevölkerung zu erreichen, eine erhebliche. Dies wird nur schwieriger wenn Bewegungen für nichtmenschliche Wesen sprechen, wie es für Bewegungen der Tierrechte und Klimagerechtigkeit der Fall ist.

Die „Frontloading“-Herausforderung

Eine letzte Herausforderung, die ich anmerken möchte, ist der Schwerpunkt den Bewegungen, die dem Momentum-Modell folgen, auf sogenanntes „Frontloading“ setzen. Frontloading bedeutet „das Nachgehen von ernstem und strategischem Planen“ und „das Planen der Zukunft mit dem Vorausahnen von Problemen, die aufkommen werden, so dass die Leute abgepasste Entscheidungen ohne Befehle oder Kontrolle treffen können.“ Dies bezieht sich darauf, dass Organisationen sich Zeit nehmen sollten (meistens um die zwölf Monate), um ihre Geschichte, Struktur, Strategie, und Kultur zu planen. Dies wird der Bewegung helfen schnell Fahrt aufzunehmen, Mobilisierung bzw. Eskalation aufzubauen, und gleichzeitig starke Prozesse, Organisation, und Unterstützungsstrukturen zu unterhalten.

Wenn wir uns das aktuelle Verständnis von sozialem Wandel anschauen, dann sehen wir, dass ein vorherrschendes Modell der sozialen Bewegungen das „Umrahmen“ ist. Dieses Modell betrifft „das Erschaffen einer Bewegung…als ein kulturelles Unternehmen: Eine Idee „bewegt“ eine Gruppe nur, wenn sie kulturelle Resonanz hat.“ Was genau diese Resonanz haben wird ist schwer, wenn nicht gar unmöglich vorherzusagen.

Ferner gilt: Was in einer sich schnell verändernden Umgebung und Medienlandschaft aktuell relevant und wichtig für die Menschen ist, wird sechs Monate später veraltet sein. Daher ist es für Organisationen riskant große Mengen an Ressourcen (Zeit, Geld, Arbeitskraft) in das Aufbauen einer Bewegung zu investieren, welche es durchaus nicht schaffen könnte die Energie und Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit einzufangen.

Gibt es also eine goldene Regel für sozialen Wandel? Theorien zu sozialem Wandel haben sich mit der Zeit weiterentwickelt. Früher glaubten Soziolog*innen, dass soziale Bewegungen aus Unzufriedenheit entstanden. Danach folgte der Glaube, dass der Erfolg einer Bewegung davon abhing, wer die richtigen Ressourcen mobilisieren konnte um ein gewolltes Ziel zu erreichen. In den letzten zehn Jahren hat eine Anzahl an Arbeiten (die sogenannte „neue Theorie des sozialen Wandels“) versucht das Aufkommen rezenter sozialer Bewegungen durch ihr Verstehen als „kulturelle Unternehmungen“ zu erklären. Diese würden sich durch den Aufbau eines „Ungerechtigkeitsrahmens“ durchsetzen, der ein Problem, eine Lösung, und einen Weg der Teilnahme vorgibt.

Nach dem aktuellen Denken in der Soziologie können wir nicht vorhersagen wann sich eine soziale Bewegung formt oder ob sie erfolgreich sein wird. Dies sagt uns, dass es trotz nützlicher Modelle wie Momentum, letztendlich keine goldene Regel oder perfekte Vorlage für Veränderung gibt, die jedes Mal erfolgreich sein werden. Trotzdem können wir, indem wir Wissen aus verschiedenen Quellen ziehen, Manches mit gewisser Zuversicht sagen:

  • Die Menschen, die am leichtesten mobilisiert werden können, sind näher als gedacht! Ein roter Faden, der sich durch die Forschung der sozialen Bewegungen zieht, ist, dass Bewegungen erfolgreich sind, wenn aktive Teilnehmer*innen inspiriert und engagiert genug sind um Freunde und Familie zu mobilisieren. Wir können daraus lernen und uns darauf konzentrieren unserer Basis das Können, und besonders die Leidenschaft zu geben anderen Menschen in ihrem Umfeld zu zeigen warum Veränderung nötig ist und warum das, was wir machen, wichtig ist.
  • Wir können Menschen für ein gemeinsames Ziel durch eine starke, einheitliche Vision und Botschaften, die auf geteilten Werten aufbauen, vereinen. Bewegungen mit einer klaren Vision, die auf den Werten, Ängsten, und Wünschen der Leute aufbauen, sind die Bewegungen, welche es schaffen Herausforderungen zu meistern und sich an Veränderung anzupassen.
  • Wenn das Ziel Massenmobilisierung und nachhaltige Veränderung ist, dann ist Gewaltlosigkeit das beste Mittel.
  • Es gibt viele Theorien zu sozialem Wandel und viele Arten und Weisen wie Veränderung mit der Zeit erreicht wurde. Indem wir von einer Reihe an Quellen und Bewegungen lernen, flexibel bleiben, uns an gegenwärtige Situationen anpassen, und keine Angst davor haben zu innovieren, können wir aus der Vergangenheit lernen und neue Mittel für Veränderung schaffen, die am wirksamsten für die Gesellschaft sind, in der wir leben.

Bücher wie „This is an Uprising“ geben uns wichtige Einsichten, welche wir nutzen können um unsere Kampagnen und Strategien zu inspirieren. Was aber noch viel wichtiger sein kann, ist was wir lernen, wenn wir diese Theorien anwenden und zusehen was sich auf den Straßen abspielt. Die Beziehung zwischen Aktivismus und Wissenschaft kann eine der Symbiose sein, in der beide Seiten nebeneinander wachsen und gedeihen. Während es wohl keinen Königsweg für sozialen Wandel gibt, so gibt es doch unglaubliche Leidenschaft, Entschlossenheit, und ein außergewöhnliches Maß an Können und Wissen. All die Bewegungen über die in Büchern geschrieben wird, sind keiner genauen Vorlage gefolgt. Genau wie wir haben sie durch den Prozess gelernt und Mittel und Lektionen der Geschichte angewendet, um Wege nach vorne zu bauen, die im entsprechenden Kontext Sinn ergaben. Wenn wir zusammenfinden, keine Angst davor haben Neues auszuprobieren, und aus unseren Fehlern und Erfolgen lernen – was können wir nicht erreichen?